25.04.2014 12:00 Uhr

São Cristóvão: Geburtsstätte des Phänomens

"Geboren" bei São Cristóvão zwischen 1991 und 1993, kurz danach schon Weltmeister: Ronaldo (l.)

Brasil Inside: Während die ganze Welt auf Brasilien schaut und das Maracanã-Stadion im Scheinwerferlicht erstrahlt, wird der Fußball hinter den Kulissen in Rio de Janeiro ganz anders gelebt. São Cristóvão ist ein Traditionsverein, der eher in der grauen Masse überlebt. Noch.

Früher, vor gar nicht allzu langer Zeit, war in Brasilien der kontinentale Libertadores-Pokal kein besonders beachteter Wettbewerb. Brasilien war vor der Verbreitung des Fernsehens und vor allem des Internets einfach viel zu groß, um über die Landesgrenzen hinaus zu blicken.

Brasilien war sogar so riesig, dass selbst die Landesmeisterschaft lange nicht mit den Wettbewerben auf Bundesstaatsebene mithalten konnte. Den beliebten Staatsmeisterschaften gehörte mindestens im ersten Tertial des Jahres die gesamte Aufmerksamkeit der Fans.

Rio-Meisterschaft 1926

Die Zeiten ändern sich. Während beim diesjährigen "campeonato carioca" in Rio de Janeiro kein einziges Spiel ausverkauft war, stehen gar einige der ehemaligen Gewinner der Rio-Meisterschaft an der Schwelle des Vergessens. Einer von ihnen ist der Verein São Cristóvão, der wie auch die Nachbarn Vasco da Gama, Flamengo und Botafogo zunächst als Ruderverein gegründet worden war. 1926 war das große Jahr des Klubs aus dem gleichnamigen Stadtviertel unweit des Zentrums. Damals gewann das Team mit den blütenweißen Trikots die Meisterschaft von Rio de Janeiro.

Man hatte die ganz Großen abgefertigt. Flamengo wurde mit 5:0 und 5:1 besiegt und auch Fluminense (4:2) und Botafogo (6:3) kamen unter die Räder. Der Ruhm, den damals wohl bedeutendsten Titel Brasiliens gewonnen zu haben, brachte São Cristóvão in den Folgejahren mehrfach lukrative Freundschaftsspielreisen nach Europa und sogar nach Ägypten ein.

Fast hundertjähriges Stadion

Zehn Jahre zuvor hatte man das kleine Stadion Figuiera de Melo erbaut, das heute kaum verändert die Heimspiele des derzeitigen Drittligisten auf Bundesstaatsebene beheimatet. Im vergangenen Jahr konnte es dank der Spende eines Farbenproduzenten neu gestrichen werden. Dabei wurde auch jene Inschrift erneuert, die in großen Lettern das Spielfeld überschreibt: "Aqui nasceu o fenômeno." Portugiesisch für: "Hier wurde das Phänomen geboren."

Um diesen Satz zu verstehen, bedarf es einer kleinen Einführung in die südamerikanische Fußballsprache. "Geboren" wird ein Spieler bei jenem Verein, bei dem er entweder ausgebildet wird oder sein Profidebüt gibt. Und als "das Phänomen" kennt man in ganz Brasilien nur eine Person: Ronaldo Luís Nazário de Lima. In Europa bekannt als Ronaldo. Jener dreifache Weltfußballer des Jahres und zweifacher Weltmeister, dessen explosionsartiger Antritt und die enge Ballführung am Rist ein Markenzeichen in der Geschichte des Fußballs sind.

Ronaldo entschied sich gegen Flamengo

Ronaldo lebte in seiner Kindheit in ärmlichen Verhältnissen draußen in der Peripherie Rio de Janeiros und obwohl er ein Probetraining bei Flamengo bestanden hatte, konnte er sich die weite und kostspielige Anreise zum Training nicht leisten. São Cristóvão war für ihn mit dem Zug zu erreichen – und der Verein zahlte dem Jungen mit den großen Schneidezähnen sogar die Fahrkarten. Hier spielte Ronaldo erstmals auf dem Großfeld, unterschrieb seinen ersten Vertrag und wurde schließlich nach drei Jahren in die U17-Nationalmannschaft Brasiliens berufen.

Heute trainieren täglich über hundert Jugendliche in den Nachwuchsmannschaften von São Cristóvão. Selbst der Altersdurchschnitt der ersten Mannschaft ist mit 20 Jahren extrem jung. Jeder von ihnen träumt von einer großen Karriere, wie sie einst Ronaldo, "das Phänomen" , hier begann. Aber sie übersehen, dass São Cristóvão längst nicht mehr Sprungbrett zu einer Profilaufbahn ist. Der Verein vermietet sein Klubheim für knapp 500 Euro am Abend und verkauft gebrauchte Trikots, um die verschleppten Rechnungen zu zahlen. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Stadion einer Shopping Mall weichen muss, wie es bereits anderen Traditionsklubs in Rio de Janeiro erging.

Vor ein paar Monaten kam "das Phänomen" noch einmal persönlich vorbei. Aus dem 17-Jährigen Nachwuchsstar ist ein übergewichtiger Enddreißiger geworden. Man bestaunte gemeinsam alte Fotos und kündigte an, das Stadion bald nach ihm, Ronaldo, zu benennen. Ebenso soll eine Bronzestatue an den berühmtesten Sohn des Vereins erinnern. Nur die Finanzierung sei bisher noch unklar.

Viktor Coco

Mehr aus der Serie "Brasil Inside":
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In den Wochen vor der WM in Brasilien berichtet Viktor Coco in der Serie "Brasil Inside" vor Ort über Land, Leute und Wissenswertes rund um die heimliche Heimat des Fußballs.

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