11.04.2014 11:39 Uhr

"Fankultur leidet unter modernen Stadien"

Die brasilianischen Fans leben im Rhythmus des Fußballs
Die brasilianischen Fans leben im Rhythmus des Fußballs

Brasilienkenner Martin Curi sieht die Seleção erst seit einigen Monaten dank ihrer starken Abwehr in der Favoritenrolle. Für Deutschland fürchtet er sich vor einem Gruppensieg. Viktor Coco sprach für weltfussball mit ihm über den brasilianischen Fußball, die Auswirkungen der Weltmeisterschaft und warum das deutsche Trikot derzeit in Brasilien polarisiert.

weltfussball: Herr Curi, FIFA-Generalsekretär Jérôme Valcke äußerte zuletzt in einem Interview mit einer brasilianischen Sportzeitung, dass von der Weltmeisterschaft in Brasilien alle profitieren würden. Stimmt das? Wem nutzt die Ausrichtung der WM im brasilianischen Fußball?

Martin Curi: Die wichtigste Infrastruktur, die eine WM hinterlässt, sind zwölf neue Fußballstadien. Der brasilianische Fußball aber finanziert sich eigentlich in erster Linie durch den Spielerverkauf – und dafür braucht man keine Stadien. Hier gibt es schließlich bereits genug Kritik, denn Städte wie Brasilia, Manaus und Cuiabá beheimaten keine großen Profiklubs. Also ist es vor allem noch ein Wunschdenken, dass die WM auch dem nationalen Fußball etwas bringen werde.

weltfussball: Und welche Akteure im Fußball haben bereits jetzt Nachteile durch die Ausrichtung der Weltmeisterschaft?

Curi: Es ist ein Fakt, dass in den letzten Jahren die Eintrittspreise unheimlich angestiegen sind. Die Stehplätze wurden abgeschafft und damit ist die billigste Preiskategorie weggefallen. Dadurch findet ein Austausch des Publikums statt. Die Zuschauer, die sich teurere Karten leisten können, hatten jahrelang geklagt, dass sie nicht mehr ins Stadion gehen konnten, da es zu chaotisch, zu gewalttätig, zu dreckig war. Teilweise durchaus zu Recht, denn die Stadien waren in miserablen Zuständen und das hat nichts mit der Fangewalt zu tun. Im Maracanã ist eine Brüstung abgestürzt, wie auch im São Januário (das Stadion des Traditionsvereins Vasco da Gama, Anm. d. Red.). In Salvador de Bahia sind gar Teile des Oberrangs rausgebrochen. Die Stadien waren größtenteils marode und aus dieser Perspektive sind die Veränderungen wiederum positiv für die Fans. Aber aus meiner Perspektive leidet die Fankultur unter diesen modernen Stadien und den hohen Eintrittspreisen. Wobei es auch hier wiederum Einschnitte gibt – die Akustik in den Neubauten ist hervorragend. Nur gibt es nun weniger Trommler und viele aktive Gruppen werden teilweise grundlos ausgeschlossen.

weltfussball: Der brasilianische Fußballalltag ist vom Hochglanzprodukt Weltmeisterschaft Lichtjahre entfernt. Wo wird denn letztendlich wirklich Brasilien in der WM stecken?

Curi: Also die Fußball-WM ist natürlich ein globalisiertes Produkt. Da darf man keine Illusionen haben. Die FIFA will Abläufe von der WM 2006 in Deutschland eins zu eins auf Brasilien übertragen – und schafft es zum Glück nicht immer. Auch wird von der brasilianischen Fankultur wenig zu erleben sein. Ein Fla-Flu (Derby zwischen Flamengo und Fluminense in Rio de Janeiro, Anm. d. Red.) ist ein tolles Spektakel, wenn die Fangruppen dabei sind.

Beim Confederations Cup war bereits zu erkennen, dass das brasilianische Publikum hier keine große Stimmung verbreitet. Bis zum Finale hatte sich das geändert, da waren sie aufgewacht und die Gesänge vermischten sich teilweise mit jenen der Straßenproteste. Wie auch in Deutschland teilt die FIFA die Stadien in vier farbige Tribünen ein. Aber was wird bei der WM brasilianisch sein? Vielleicht werden die Einlasskontrollen stärker. Hier in Brasilien gibt es nämlich Metalldetektoren.

weltfussball: In ihrem Buch "Brasilien – Land des Fußballs" (Verlag Die Werkstatt; 350 Seiten) beschreiben Sie die starke Kritik in Brasilien bei der WM 2010 am damaligen Nationaltrainer Carlos Dunga. Er spiele zu europäisch und auch die Spieler wurden für ihr heimatentfremdetes Söldner-Dasein in Europa angegriffen. Nach einem Intermezzo mit Mano Menezes, der auf viele Spieler der nationalen Liga setzte, kam wieder Felipe Scolari – und alles ist beim alten.

Curi: Die Absetzung von Mano Menezes durch Scolari war eine rein politische Entscheidung. Menezes hatte sehr erfolgreich gespielt, aber durch einen Wechsel an der Spitze des Verbandes wurde reinen Tisch gemacht.
In dem von Ihnen angesprochenen Kapitel will ich erläutern, dass Brasilien das "Land des Fußballs" ist, nicht, weil es den besten Fußball spielt, sondern weil der Fußball hier ein Ritual ist, über das gesellschaftliche Themen dramatisiert werden. Dabei schlägt die Stimmung der Brasilianer stark in Extreme aus. Entweder man ist der Dreck der Welt oder in allem unschlagbar. Diese Mentalität ist wiederum stark an den Erfolg der Nationalmannschaft gekoppelt. Und vor allem daran, wie sie spielt. Bis 1970 war der Stil der Seleção nicht zu diskutieren. Aber danach gab es 24 Jahre ohne Weltmeistertitel und mittendrin (1982) eine Mannschaft, die überaus brasilianisch spielte und dennoch nicht gewann. Seitdem gibt es immer wieder Diskussionen, wie die Mannschaft spielen soll. Carlos Dunga hat als Spieler bei den Weltmeisterschaften 1990 und 1994 durch seine robuste Spielweise den Stil geprägt und war bereits damals sehr unbeliebt.

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weltfussball: Aber lässt Scolari nicht eigentlich auch einen europäischen Stil spielen?

Curi: In der Tat, aber er verkauft dies deutlich besser. Gegenüber den Medien sprach er 2002 immer von der "großen Familie der Nationalmannschaft", Ronaldinho trommelte vor den Kameras im Mannschaftsflieger… Alles sehr brasilianisch! Dabei ist das hervorragend durchgeplant für eine mediale Außendarstellung. Auch während des Confederations Cup hat Scolari sehr flexibel auf die Demonstrationen reagiert. Er hat immer das brasilianische Volk einbezogen, ohne politisch Position zu beziehen. Er ist ein Medienprofi und die Brasilianer lieben ihn.

weltfussball: Was erwarten Sie von der brasilianischen Mannschaft?

Curi: Bis letztes Jahr hätte ich gesagt: völliger Außenseiter. Wenn die WM auf einem anderen Kontinent wäre, würde ich Brasilien nicht als Favorit sehen. Scolari hat aber gezeigt, wie man diese Mannschaft zusammenschweißt. Die Abwehr ist mittlerweile beinhart, vielleicht eine der besten. Thiago Silva, David Luiz und Dante sind der Wahnsinn. Und auch davor ist Neymar nicht mehr Alleinunterhalter. Oscar und Lucas finden langsam ihren Weg. Und eins ist natürlich klar: Brasilien hat in der Geschichte nur sehr wenige Spiele im eigenen Land verloren. Mit diesem Heimvorteil und der starken Abwehr ist vor allem die Frage: Wie besiegt man Brasilien? Am Ende gewinnen sie vielleicht italienisch-defensiv und Scolari verkauft es als brasilianischen Stil.

weltfussball: Und die Bundesligaspieler?

Curi: Luiz Gustavo ist einer der Lieblingsspieler von Felipe Scolari und damit wahrscheinlich gesetzt. Auf Rafinha ist der Coach natürlich nur aufmerksam geworden, weil er derzeit in dieser hervorragenden Bayern-Mannschaft spielt. Und vielleicht schafft es auf dieser Bayern-Erfolgswelle sogar Dante auf der Innenverteidigerposition, David Luiz von Chelsea aus der Startelf zu verdrängen.

weltfussball: Würde ein sportlicher Erfolg in der Wahrnehmung der Brasilianer alle organisatorischen Mängel und sozialen Probleme des Landes überdecken?

Curi: Nein, aber es ist ein üblicher Effekt, dass mit einem Titelgewinn alles "Friede-Freude-Eierkuchen" erscheint. Aber viele Kritiken wie zum Beispiel an der Korruption der Politiker im Land sind nicht neu, sondern werden seit über einem Jahrzehnt geäußert. Das könnte ein WM-Triumph nicht verdrängen. Es wäre eher ein "Ja, aber…". Natürlich würde aber nicht mehr die Masse des Volkes hinter den vielen Kritikpunkten stehen.  Andersherum ist es aber üblich, dass wenn Brasilien eine WM nicht gewinnt, eine große Diskussion entfacht: Wer ist schuld? Und diese Suche nach Schuldigen erleichtert es häufig auf Probleme hinzuweisen.

weltfussball: Wäre es dann für die starke Kritik an den falschgeleiteten Investitionen und an der sozialen Ungleichheit nicht sogar besser, dass Brasilien nicht gewinne?

Curi: Ja, definitiv. Für viele soziale Bewegungen wäre es besser, Brasilien wird nicht Weltmeister. Das sagt natürlich keiner, denn für Unterstützung aus der breiten Öffentlichkeit wäre das kein kluger Schachzug. Aber Vorsicht: Die allermeisten Akteure dieser sozialen Proteste äußern seit langem, dass sie nicht gegen die Weltmeisterschaft an sich sind! Stattdessen soll diese bloß entsprechend genutzt werden für sozialen Fortschritt oder ähnliches.

weltfussball: Eine Frage zur DFB-Mannschaft: Sie kennen alle drei Vorrundenspielorte – werden die klimatischen Bedingungen zur Mittagszeit bei Temperaturen über 30 Grad und sehr hoher Luftfeuchtigkeit ein großes Problem?

Curi: Das Klima in Salvador finde ich persönlich ganz angenehm. In Recife wird tropische Regenzeit sein. Am schlimmsten ist vielleicht Fortaleza. Das Klima wird schon hart, aber Gott sein Dank für die anderen Mannschaften auch. Viel mehr Sorgen macht mir etwas anderes: Als Gruppensieger müsste Deutschland für das Achtelfinale nach Porto Alegre. Und das sind von Recife 4000 Kilometer und wenn man Pech hat 30 Grad Temperaturunterschied!

weltfussball: War es ein cleverer Marketing-Schachzug von Adidas, das Ersatztrikot der Nationalmannschaft mit den rot-schwarzen Querstreifen wie das Shirt des beliebtesten brasilianischen Vereins Flamengo zu gestalten?

Curi: Ich beobachte derzeit, dass die Flamengo-Fans tatsächlich dieses Trikot vermehrt kaufen. Man schätzt etwa, dass 30 Millionen Brasilianer Fan von Flamengo sind. Allerdings darf man nicht vergessen, dass Flamengo mit dem FC Bayern zu vergleichen ist: Entweder man liebt ihn oder man hasst ihn. Also haben der DFB und Adidas sich mit dieser Trikotgestaltung gleichzeitig sehr viele Feinde gemacht, denn der Rest der Brasilianer findet die Deutschen in diesem Trikot richtig unsympathisch.

>> DIASHOW: Die Trikots der WM-Teilnehmer

weltfussball: Wir machen die Kurve und kehren nach Brasilien zurück: Sie sind Anhänger von Fluminense, aber Flamengo spielt derzeit Copa Libertadores. Was macht Ihnen mehr Spaß – Copa Libertadores oder ein WM-Spiel?

Curi: Eindeutig die Copa Libertadores. Diese hat aber lange Zeit in Brasilien um ihr Prestige kämpfen müssen. Noch bis vor einigen Jahrzehnten waren die Regionalmeisterschaften, wie zum Beispiel das "campeonato carioca" des Bundesstaates von Rio de Janeiro, deutlich beliebter. Mir persönlich macht diese Meisterschaft immer noch Spaß. Die kleinen Stadien haben Charme und versprühen eine gewisse Romantik. In der Copa Libertadores lässt sich währenddessen die Dominanz der brasilianischen Vereinsmannschaften in Südamerika ablesen.

Interview: Viktor Coco

>> Brasil Inside: Fußballerproduktion wie auf der Orangenplantage

Martin Curi (* 1975 in Freising) lebt seit zwölf Jahren in Rio de Janeiro, wo er an der Bundesuniversität UFF mit einer anthropologischen Arbeit zum Thema Fußballfans promoviert hat. Im Verlag Die Werkstatt sind von ihm "Brasilien – Land des Fußballs" (2013) und "Friedenreich – Das vergessene Fußballgenie" (2009) erschienen. Außerdem hat er in den Fußballzeitschriften "11 Freunde", "Rund", "Stadionwelt" und "Ballesterer" veröffentlicht. Regelmäßig schreibt er über brasilianischen Fußball auf http://imlanddesfussballs.blogspot.com.br/.

In den Wochen vor der WM in Brasilien berichtet Viktor Coco in der Serie "Brasil Inside" vor Ort über Land, Leute und Wissenswertes rund um die heimliche Heimat des Fußballs.

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