Fan-Expertin: Schalke-Ultras sind "nicht gefährlich"

Mitten in der schwersten sportlichen Krise der jüngeren Vereinsgeschichte gingen zuletzt auch die Fans des FC Schalke 04 auf die Barrikaden. Droht den Königsblauen im Abstiegskampf der Bruch mit den sonst so treuen Anhängern?
Vor dem richtungsweisenden Auswärtsspiel bei Werder Bremen am Freitag (20:30 Uhr) spricht die bekannte Schalke-Bloggerin und Fan-Expertin Susanne Hein-Reipen im exklusiven weltfussball.de-Interview über die Talfahrt der letzten Monate, das Fehlen von Identifikationsfiguren sowie die Frage, ob Schalkes Ultras gefährlich für den Verein sind.
Hallo Frau Hein-Reipen, eine für Sie vermutlich nicht ganz angenehme Frage zu Beginn: Wie fühlt man sich in diesen Tagen als Schalke-Fan?
Susanne Hein-Reipen: Schalker sind leidensfähig. Wir haben in unserer langen Vereinsgeschichte schon einiges mitgemacht. Aber der Absturz der letzten Monate ist krass. Letzte Saison war alles rosarot und königsblau, diese ist das exakte Gegenteil.
Schalke hat am 5. Mai 2018 die Vizemeisterschaft perfekt gemacht, hatte damals fünf Punkte mehr auf dem Konto als der BVB. Heute schreiben wir den 8. März 2019 und der Vorsprung auf die Abstiegszone beträgt nur noch vier Zähler. Was ist in der Zwischenzeit schiefgelaufen?
Wenn ich das genau sagen könnte, hätte ich vermutlich eine sehr gut bezahlte Position im Profi-Fußball (lacht). Das ist das eigentlich Schlimme: Man kann nicht sagen, der und der hat den und den Fehler gemacht. Auf dem Papier sahen beispielsweise die Neuzugänge des letzten Sommers prima aus. Mit den fünf Niederlagen zu Saisonbeginn ist dann eine ungute Spirale in Gang gekommen, aus der Schalke jetzt nur sehr schwer wieder herauskommt.
Laute Kritik gibt es an der verfehlten Personalpolitik des inzwischen zurückgetretenen Sportvorstands Christian Heidel. Sehen Sie diese als Hauptgrund für die Talfahrt?
Ich würde gar nicht unbedingt so weit gehen und von einer komplett verfehlten Personalpolitik sprechen. Aber wir haben in dieser Saison das Gefühl, dass wir keine Mannschaft mehr haben, sondern dass elf Ich-AGs auf dem Platz stehen. Letzte Saison haben wir auch keinen Zauberfußball gespielt, aber jetzt stimmt der Zusammenhalt einfach nicht mehr. Warum, das wüssten wir alle gerne.
Als Christian Heidel im Sommer 2016 seinen Job auf Schalke antrat, hatte sich der Verein Kontinuität auf die Fahnen geschrieben. Jetzt ist Heidel schon wieder Geschichte. Wie wird diese Entwicklung in der Fan-Szene gesehen?
Christian Heidel ist damals auf Schalke nicht von allen mit großer Begeisterung aufgenommen worden. Er kam immer sehr kühl, nüchtern, professionell rüber. Heidel hat nie durchblicken lassen, dass er auch nur einen Funken Herzblut für Schalke entwickelt hat. Deshalb sind viele Fans nie so richtig mit ihm warm geworden und ihm fehlte zuletzt auch etwas der Rückhalt.
Der neue starke Mann ist Jochen Schneider. Was sind die ersten Eindrücke der Fans von ihm?
Die meisten Schalker waren froh, dass die Heidel-Nachfolge schnell geregelt wurde und es keine lange Hängepartie gab. Schneider war vielen höchstens namentlich bekannt. Nach seiner Vorstellung war der Tenor, dass er einen vernünftigen, bodenständigen Eindruck macht und eine Chance verdient hat.
Trotz der sportlichen Misere darf Trainer Domenico Tedesco weitermachen. Hat er noch die Rückendeckung der Anhänger?
Es gibt Fans, die ihn loswerden wollen. Aber die große Mehrheit hält ihn in der momentanen Situation für die ärmste Sau auf Schalke. Manche sagen sogar, man sollte sogar im Falle des Abstiegs an ihm festhalten.
Die Strippen auf Schalke zieht der mächtige Aufsichtsratschef Clemens Tönnies. Wie sehen die Fans ihn?
Clemens Tönnies spaltet die Schalker Anhängerschaft im extremen Maße. Es gibt die Pro-Tönnies-Fraktion, glühende Gegner und alles dazwischen. Viele, ich eingeschlossen, sehen es sehr kritisch, dass er immer so auftritt, als ob Schalke allein sein Verein wäre. Etwas mehr "Wir" und etwas weniger "Ich" wäre schön. Tönnies sollte sich besser in das Gesamtgefüge FC Schalke 04 einfügen statt immer den dicken Max zu markieren.
Schalke hat in der jüngeren Vergangenheit Identifikationsfiguren wie Benedikt Höwedes und Naldo verloren, auch Ralf Fährmann ist nach seiner Degradierung zur Nummer zwei angezählt. Dazu kamen die Abgänge von Eigengewächsen wie Leroy Sané und Thilo Kehrer. Kann man sich als Fan überhaupt noch mit der Mannschaft identifizieren?
Die meisten Schalker sind eher Fans des Vereins als konkret der Mannschaft oder einzelner Spieler. Es ist natürlich schöner, wenn viele Eigengewächse auflaufen. 2015 in der Champions League gegen Real Madrid standen glaube ich acht Spieler aus der eigenen Jugend auf dem Platz. Leute wie Guido Burgstaller können es auch zur Identifikationsfigur schaffen, weil sie die Schalker Tugenden verkörpern. Aber ein paar Jungs aus dem Pott, die auch in der Kurve stehen könnten, wären toll. Ahmed Kutucu ist beispielsweise einer, der in diese Rolle hineinwachsen könnte.
Nach dem 0:4-Debakel gegen Fortuna Düsseldorf am vergangenen Wochenende betraten zwei Abgesandte der Ultras Gelsenkirchen den Platz und zwangen Ersatzkapitän Benjamin Stambouli zur Herausgabe der Kapitänsbinde. Wie sehen Sie diese Aktion?
Das war eine Szene mit Symbolcharakter, die aussagte: "Wir sind enttäuscht, unsere bedingungslose Unterstützung habt ihr nicht mehr." Die Ultras haben diese Binde vor der Saison als Auszeichnung für die tolle kämpferische Leistung im Vorjahr angefertigt und an die Mannschaft übergeben. Dass sie sich diese nun auf diese Art und Weise zurückgeholt haben, war glaube ich eine spontane Aktion nach dem Spiel. Wenn die Ultras geahnt hätten, dass die Szene europaweit für Aufsehen sorgen würde, hätten sie das vermutlich anders gemacht. Die Fan-Szene insgesamt fand es aber überwiegend gut, wie das gelaufen ist. Und, ganz wichtig: Die Aktion ging absolut nicht gegen Stambouli. Er war einfach derjenige, der in diesem Moment die Binde trug.
Schalke-Ikone Klaus Fischer sprach im Nachhinein davon, dass die Ultras "gefährlich" für den Verein seien.
Das halte ich für komplett falsch. Bei allem Respekt vor seiner sportlichen Leistung ist Klaus Fischer auch nicht die Instanz, die das beurteilen sollte. Eigentlich sind unsere Ultras total vernünftig. Sie sind nicht gewaltaffin, machen tolle Choreografien, schieben zahlreiche gemeinnützige Projekte in Gelsenkirchen an. Auch mit Pyro-Technik gehen sie verantwortungsbewusst um. Einmal im Jahr brennt es auswärts, aber immer nur so, dass nichts passiert. Die Ultras sind nicht gefährlich, sondern der Verein profitiert sehr von ihnen, was Stimmung und Zusammengehörigkeitsgefühl der Fan-Szene angeht. Das weiß auch die Schalker Chef-Etage.
Ist es angesichts der aktuellen Gemengelage überhaupt denkbar, dass die Fans die Mannschaft im Saisonendspurt bedingungslos unterstützen?
Hinter das bedingungslos muss momentan ein Fragezeichen gesetzt werden. Die Mannschaft wird die absolute Unterstützung dann bekommen, wenn die Fans den Eindruck haben, dass die Spieler es wenigstens versuchen. Aber wenn viele, wie gegen Düsseldorf, eine Null-Bock-Einstellung ausstrahlen, gehen die Fans natürlich auf den Zaun und sind wütend.
Glauben Sie, dass Schalke die Klasse hält?
Ja. Ich denke, dass Schalke bei allen Querelen und Zwistigkeiten immer noch genügend individuelle Qualität hat. Mit Burgstaller, Stambouli oder auch Daniel Caligiuri gibt es einige Spieler, die das Team mitreißen können. Auch wenn der ein oder andere vielleicht noch nicht verstanden hat, dass man mitten im Abstiegskampf steckt.
Werfen wir noch einen Blick voraus: Was wünscht sich die Schalker Fan-Seele für die mittelfristige Zukunft?
Wir sind noch im DFB-Pokal, haben im Viertelfinale ein Heimspiel gegen Bremen. Es gibt unter den Fans die leise Hoffnung, dass der Pokal der Rettungsanker dieser beschissenen Saison wird. Zur kommenden Spielzeit sollte man einige faule Äpfel in der Mannschaft aussortieren. Es müssen nicht elf Messis oder Ronaldos auf dem Platz stehen, aber Spieler, die sich freuen, für Schalke aufzulaufen.
Zur Person: Susanne Hein-Reipen, geboren 1971, Schalke-Fan seit 1983, berichtet in ihrem Blog, auf ihrer Facebook-Seite "Susanne Blondundblau auf Schalke" sowie für das Portal "westline" von ihren Erfahrungen als Dauerkarteninhaberin und Vielfahrerin bei den Königsblauen. Sie gilt als intime Kennerin der Schalker Anhängerschaft. Zudem beschäftigt sich Hein-Reipen vereinsübergreifend mit Fußball- und Fankulturthemen.
Das Gespräch führte Tobias Knoop