08.09.2004 23:45 Uhr

Klinsmann setzt auf Risiko-Elf mit Not-Abwehr

Berlin (dpa) - Mit einer mutigen Aufstellung und beherztem Angriffsfußball will Jürgen Klinsmann gleich bei seiner Heimpremiere als Bundestrainer erreichen, was Vorgänger Rudi Völler vier lange Jahre verwehrt blieb.

Die seit dem 7. Oktober 2000 anhaltende schwarze Serie der deutschen Fußball-Auswahl gegen die großen Nationalmannschaften der Welt soll bei der WM-Revanche gegen Brasilien ihr Ende haben.

«Unsere Schlagworte sind Aggressivität, Agieren, Offensive und Risikobereitschaft», lautete Klinsmanns Parole für den Fußball-Klassiker im Berliner Olympiastadion, wo der 40-Jährige in 22 Monaten im WM-Endspiel seine Mission als Reformator des deutschen Fußballs erfüllt sehen will.

Seinen Spielern versuchten Klinsmann und Assistent Joachim Löw zwei Tage vor dem Spiel in einer gut zehnminütigen Kabinenansprache und zwei erneut überaus anspruchsvollen Trainingseinheiten zu vermitteln, was sie von ihnen erwarten: Tempo, Dynamik und Leidenschaft. «Wir wollen einen Fußball praktizieren, der offensiv ausgerichtet und mit einem gewissen Risiko behaftet ist. Und wir wollen unabhängig vom Gegner agieren», erläuterte Löw. Auch wenn etliche Nationalspieler noch ihre Probleme haben, den mitunter ausgefallenen Übungsformen zu folgen, stellte Löw dem Personal ein gutes Zwischenzeugnis aus: «Die Mannschaft ist aufnahmefähig ist geht konzentriert an die ganze Angelegenheit geht.»

Wie viel der beim 3:1 in Österreich verheißungsvoll in die Klinsmann-Ära gestartete Vize-Weltmeister von dem Erlernten umsetzen kann, bleibt abzuwarten. Auch die Routiniers im Team wie Ex-Kapitän Oliver Kahn tun sich mit einer Einschätzung des eigenen Leistungsvermögens schwer. «Dass wir alle motiviert reingehen, ist keine Frage. Wie sich das dann über 90 Minuten darstellen wird, kann man nicht vorhersehen», meinte der Torhüter des FC Bayern auch mit dem Blick auf die Historie zurückhaltend.

Gegen Top-Gegner hat die DFB-Auswahl in den letzten zehn sieglosen Spielen gerade mal ein Unentschieden im EM-Gruppenspiel gegen die Niederlande (1:1) geholt. Die letzten fünf Heimspiele gegen England, Argentinien, Niederlande, Italien und Frankreich gingen allesamt verloren. Und speziell gegen Brasilien ist die Bilanz mit lediglich drei Siegen in 18 Vergleichen verheerend.

Verstärkt wird die Skepsis des 35-Jährigen Kahn, der im WM-Finale von Yokohama durch einen Patzer die 0:2-Niederlage eingeleitet hatte, durch die personelle Situation vor allem im Abwehrbereich. Die Bremer Innenverteidiger Frank Baumann und Frank Fahrenhorst, der fast keine Erfahrung gegen Stürmer von internationalem Format besitzt, haben selbst im Verein noch nie zusammen im Abwehrverbund agiert; flankiert werden sie von den Stuttgartern Andreas Hinkel und Philipp Lahm.

Symbolisch für die offensive Ausrichtung ist das Vierer-Mittelfeld, das hinter den Spitzen Kevin Kuranyi und vermutlich Gerald Asamoah das künftige Herzstück des deutschen Spiels werden soll. In Torsten Frings gibt es dabei nur noch eine wirkliche Defensivkraft. Für die Kreativität sind Bernd Schneider, Michael Ballack und Sebastian Deisler eingeplant.

Auch wenn Löw die Rückkehr Deislers nach einjähriger Länderspiel-Abstinenz noch nicht offiziell verkünden wollte, deuteten seine Worte klar auf eine Berufung des Münchners in die Anfangself hin. «Er macht einen sehr positiven Eindruck. Er ist mit großer Freude angereist, ist sehr offen, kommunikativ und motiviert», schilderte Löw seine Eindrücke. Dagegen wurde Deislers Teamkollege Bastian Schweinsteiger, auch beim FC Bayern derzeit nur Reservist, an die U21- Auswahl ausgeliehen. Der Nachwuchs bestreitet in Dessau einen Test gegen Serbien und Montenegro.

«Wir werden unserer Mannschaft immer wesentlich mehr Beachtung geben als dem Gegner, auch wenn er jetzt Brasilien heißt. Die ganze Konzentration gilt uns selbst», betonte Klinsmann. Anders als unter Völler sollen nicht mehr Video-Zusammenschnitte über den Gegner Schwerpunkt der Mannschaftssitzung sein. «Zu 90 Prozent», so Löw, gelten die Priorität «dem eigenen System».

Keeper Kahn betonte erneut, dass er sich weder durch die Absetzung als Kapitän noch durch die Stammtorhüter-Diskussion zurückgesetzt fühlt. Stattdessen lobte er den Klimawechsel im Team. Vor geraumer Zeit seien die Spieler mit langen Gesichtern angereist und der Befürchtung, «jetzt muss ich hier wieder drei, vier Tage rumhängen und mich langweilen». Dazu bleibt unter Klinsmann keine Zeit mehr.

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