28.08.2013 15:00 Uhr

Vitinho: "zweiter Neymar" wechselt nach Europa

Vitinhos Herz schlägt künftig für CSKA Moskau
Vitinhos Herz schlägt künftig für CSKA Moskau

Fünf Tage vor Ende der Transferperiode hat CSKA Moskau Stürmer Vitinho vom brasilianischen Tabellenzweiten Botafogo verpflichtet. Der russische Meister überweist 10 Millionen Euro nach Brasilien – und raubt damit Rio de Janeiro einen zentralen Protagonisten des derzeitigen Fußballspektakels.

Noch am Samstag grölte der Fischverkäufer über den Wochenmarkt im Stadtteil Lapa den aktuellen Stadionhit der Botafogo-Fans: "Vitinho é melhor que Neymar!" – "Vintinho ist besser als Neymar", ließ er stolzerfüllt den gegenüberliegenden Gemüsehändler wissen. Ein hochgegriffener Vergleich, der aber erkennen lässt, welche Euphorie Victor Vinícius Coelho dos Santos in Rio de Janeiro zuletzt ausgelöst hat.

"Der kleine Victor" debütierte erst vor drei Monaten in der brasilianischen Série A, hatte aber im ersten Jahresdrittel mit seinem Team die prestigeträchtige Regionalmeisterschaft von Rio de Janeiro gewonnen. Auch seine sportliche Gegenwart bei Botafogo ist rosig: Nach 16 Spieltagen liegt man nur zwei Zähler hinter der Spitze und im Achtelfinale der "Copa do Brasil" steht das Team nach einem 4:2-Sieg im Hinspiel gegen Copa-Libertadores-Sieger Atlético Mineiro auf der Schwelle ins Viertelfinale.

Heraus aus Seedorfs Schatten

War während des "Campeonato Carioca", so der Name der Bundesstaatsmeisterschaft, der noch immer herausragend aufspielende Kapitän Clarence Seedorf im Mittelpunkt, rückte der 19-jährige Vitinho von seiner Rolle als Ergänzungsspieler zunehmend in den Fokus von Fans und Medien. Der beidfüßige Offensivspieler vereint starke Distanzschüsse, die typisch brasilianische enge Ballführung und ein gutes Auge für den richtigen Pass.

Botafogo erhöhte zuletzt sein Monatsgehalt von 5.000 auf knapp 12.000 Euro, aber mit einer Vervielfachung auf 70.000 Euro wollte sich die Vereinsführung bis zum Jahresende Zeit lassen. "Diesen Prozess hätte man unbedingt beschleunigen müssen", so ein Ex-Funktionär gegenüber der Tageszeitung "O Globo": "Aber bei Botafogo rechnete derzeit niemand mit einem Angebot." Mit der festgeschriebenen Ablösesumme von 10 Millionen Euro sah man den Rohdiamanten genügend abgesichert.

Aber Vitinho drehte in den letzten Wochen richtig auf. Beim 3:3 im Topspiel gegen das mit Stars gespickte Team von Internacional de Porto Alegre steuerte der Youngster selbst zwei Treffer mit sehenswerten Fernschüssen bei und spielte den entscheidenden Pass in der Szene, die letztendlich zum Strafstoß und drittem Tor von Botafogo führte. Auch im Pokalspiel gegen Ronaldinhos Atlético Mineiro war der Spieler mit der Nummer 31 an drei Treffern beteiligt und erzielte das letzte Tor selbst.

Porto und CSKA bieten um das Supertalent

In Europa war längst das Interesse der großen Talentspäher geweckt. Nur wollte Botafogo ihn eigentlich nicht verkaufen, hatte man doch aufgrund finanzieller Schwierigkeiten bereits die Stammspieler Azevedo und Jadson im laufenden Spielbetrieb abgeben müssen.

Aber die Spielervermittleragentur Traffic und Vitinho selbst hatten Blut geleckt. Der FC Porto zog mit dem 10-Millionen-Angebot von CSKA gleich, aber die Russen stachen den Konkurrenten in den Gehaltsverhandlungen deutlich aus. Der bei Traffic für den Spieler zuständige Miguel Goes "entführte" (so "O Globo") ihn am Montag aus dem Mannschaftshotel, um die Verhandlungen mit einem Anwalt aus Moskau schnellstmöglich abzuschließen.

Aus kulturellen und vor allem sprachlichen Gründen wäre ein Wechsel nach Portugal für Vitinho sicherlich naheliegender gewesen. Vitinho stammt aus einem der größten Armenviertel Lateinamerikas, dem Complexo do Alemão, hat vermutlich noch nie Brasilien verlassen, geschweige denn Schnee gesehen. Ebenso trifft er bei CSKA nur auf einen weiteren Landsmann und nicht auf eine integrative Clique von Brasilianern, wie sie etwa Klubs wie Shakhtar Donetsk mittlerweile bieten.

Fan-Proteste gegen Wechsel

Die Enttäuschung bei seinem Heimatklub jedenfalls ist groß. Bereits am Montagabend gab es Proteste vor der Geschäftsstelle. Gegen die Freigabe durch den Verein und gegen den vermeintlichen Söldner Vitinho. Aus sportlicher Sicht verständlich, zerplatzen durch den Transfer möglicherweise die Meisterschaftsträume der "Botafoguense".

Dennoch bezeichnet Sérgio Xavier vom Sportmagazin "Placar" die Kritik als "brasilianischen Zynismus". Schließlich erfülle CSKA die festgeschriebene Ablösesumme, Vitinhos Wunsch nach finanzieller Sicherheit ist mehr als nachvollziehbar und der Verein schuldete seinen Spielern gar zwei Monatsgehälter. Von der Transfersumme, von der Botafogo 40% an Vitinhos Jugendverein Audax abdrücken muss, wird ein Großteil direkt vom Fiskus kassiert.

Ein Transfer unter vielen

Es ist einer dieser Wechsel, wie sie hundertfach halbjährlich zwischen Südamerika und Europa stattfinden. Angetrieben durch die Spielerberater, sind in der Einzelbetrachtung die Entscheidungen der Nachwuchskicker meist verständlich. Weniger förderlich ist es häufig für ihre persönliche Entwicklung und für die lokale Fußballkultur, die monatlich neue Themen und Idole produzieren muss.

Nächste Woche wird auf dem Wochenmarkt bei den Fischhändlern sicherlich weiter über Fußball diskutiert. Aber irgendwann ist das Talentmeer leergefischt, sodass ein Gedanke an gewisse Fangquoten durchaus angebracht wäre.

Vor Ort in Rio de Janeiro: Viktor Coco

Online-Wettanbieter: bet365 | Interwetten | sportingbet | Tipico Sportwetten