20.12.2022 11:15 Uhr

Martina Voss-Tecklenburg über die Erkenntnisse der WM

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg
Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg

Nach der Männer-WM ist vor der Frauen-WM: Für die deutschen Fußballerinnen war 2022 ein wegweisendes Jahr, auf das Martina Voss-Tecklenburg "sehr stolz" zurückblickt. Die Bundestrainerin spricht im Interview zudem über die Titel-Mission in Down Under, ihren Kontakt mit Hansi Flick und Lehren der Männer-WM.

Frau Voss-Tecklenburg, ein aufregendes Jahr geht für Sie mit vielen Medienterminen zu Ende, wie sehr sehnen Sie Erholung und Urlaub herbei?

Martina Voss-Tecklenburg (Bundestrainerin): "Herbeisehnen ist nicht der richtige Ausdruck, ich übernehme diese Aufgaben ja gerne. Ich freue mich aber auf Weihnachten und den Teneriffa-Urlaub, der danach ansteht."

Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf 2022 mit dem Highlight EM-Finale in Wembley zurück?

"Ich bin auf unser gesamtes Team sehr stolz, weil wir auch in schwierigen Situationen immer lösungsorientiert gearbeitet haben. Die EM überstrahlt natürlich alles. Wir bekommen immer noch viele Reaktionen, obwohl wir nicht Europameisterinnen geworden sind. Und das Schönste ist, zu sehen, dass es nachhaltig ist, dass in den Stadien, bei den Vereinen, aber auch in den Köpfen der Menschen etwas passiert ist. Aber wir müssen dranbleiben."

Und wie schauen Sie ins WM-Jahr?

"Wir sind noch immer in einem Prozess, mit gestärktem Selbstbewusstsein. Wir wollen weiter um Titel mitspielen. Dafür haben wir die Basis geschaffen. Wir haben noch viele entwicklungsfähige Spielerinnen, das stimmt optimistisch. Es wird bei der WM an uns liegen, über gute Leistungen wieder eine Welle der Begeisterung loszutreten."

Sie haben den EM-Hype angesprochen - was spricht für einen nachhaltigen Effekt?

"Die Gesellschaft hat sich einerseits verändert, Themen wie Diversität, Gleichberechtigung, Diskriminierung sind viel öffentlicher geworden. Der andere Punkt ist die Sichtbarkeit. Man muss Interesse wecken, emotionalisieren. Wir wollen nahbar und sichtbar sein, aber dazu braucht es eine prominente Plattform - die hat lange gefehlt. In dieser Entwicklung liegt eine große Chance, ohne träumerisch zu sein. Man sieht im Männerfußball zum Beispiel gerade die andere Seite, nämlich, dass auch schnell viel schwarz-weiß gemalt wird."

Wenn es um die Männer-Nationalmannschaft geht und ihren Kollegen Hansi Flick?

"Ich finde es richtig, dass Hansi weitermacht. Dieses Turnier ist nur ein Teil eines gesamten Prozesses. Der Wert der Trainer-Arbeit sollte sich generell nicht daran bemessen, ob man ein bestimmtes Turnierspiel gewinnt oder nicht. Ich finde nicht gerechtfertigt, wie viel Druck teils in der Bewertung von Nationaltrainern ausgeübt wird. Mich stimmt das nachdenklich."

Haben Sie Flick kontaktiert?

"Ich habe ihm nach dem Ausscheiden ein paar Worte geschrieben und ihm gute Menschen an seiner Seite gewünscht. Weil ich weiß, dass man sich als Trainer oder Trainerin in solchen Momenten auch mal sehr allein fühlt. Im Gespräch werden wir uns sicher auch bald austauschen."

Hat Ihnen die Männer-WM Erkenntnisse für Ihre eigene Arbeit geliefert?

"Wir haben eine Phase, in der individuelle Qualität den Unterschied ausmacht, denn die Teams sind alle auf einem sehr hohen Niveau. Das ist auch eine Parallele zu uns: Wir haben eine richtig gute Teamleistung bei der EM gebracht. Trotzdem hatten wir über die individuelle Qualität von Alexandra Popp auch einen Erfolgsfaktor. Und wie wichtig Widerstandsfähigkeit für ein Team ist, hat beispielsweise Kroatien gegen Brasilien bewiesen. Das hat mir extrem gut gefallen."

In wenigen Monaten ist auch ihre Widerstandsfähigkeit bei einer WM gefordert, in Australien und Neuseeland. Sind Sie zufrieden mit dem Quartier 100 km nördlich von Sydney, das ihnen die FIFA zugeteilt hat?

"Es war unsere erste Wahl unter den angebotenen Unterkünften. Wir wussten, dass es nicht die optimale Lösung gibt, aber es ist super für unsere Situation. Wir haben ein Basecamp mit kurzen Wegen zum Trainingsplatz und könnten dort auch über die Gruppenphase hinaus bleiben. Wir wünschen uns ja, dass wir die meisten Spiele in Sydney machen..."

Dort finden auch Halbfinale und Finale statt. Sie haben die weiten Wege angesprochen, dazu ist in Australien Winter - wie speziell werden die Umstände?

"Man hat uns versichert, dass dort auch um die Jahreszeit die Sonne mehrheitlich scheint und wir um die 18 bis 22 Grad haben, wenn es gut läuft. Dass es früher dunkel und abends ein bisschen frischer wird, darauf stellen wir uns ein. Wir reisen zehn Tage vor dem ersten Spiel an und können uns akklimatisieren. Trotzdem haben wir Wege zu bewältigen. Aber das wird gut vorbereitet sein."

Und sportlich? Wie blicken Sie auf die Gruppe H?

"Die ist herausfordernd mit drei Teams, gegen die Deutschland noch nie gespielt hat. Bei Marokko wird die Euphorie um die Männer auch auf die Frauen schwappen, ihr französischer Trainer Reynald Pedros hat mit Olympique Lyon Titel gewonnen. Kolumbien schätze ich sehr stark ein, gerade auch ihre Mentalität. Südkorea hat sich entwickelt und ihr Trainer Colin Bell kennt unsere Spielerinnen sehr gut. Wir haben den Anspruch weiterzukommen, aber es wird kein Spaziergang. Und im Achtelfinale könnte es schon gegen Brasilien oder Frankreich gehen..."

Also gegen Mitfavoriten. Wer gehört noch dazu?

"Es gibt wieder nicht den einen großen Favoriten. Man sieht es an den USA, die als Weltmeisterinnen erkannt haben, dass sie umdenken müssen. Ihr physischer Vorteil ist aufgebraucht, sie müssen mehr über spielerische Qualität kommen. Der Favoritenkreis wird wohl größer. Die Aufstockung auf 32 Teams kommt aber vielleicht zu früh, weil ich nicht weiß, ob alle schon das hohe sportliche Niveau halten können."

Nach der WM läuft Ihr Vertrag aus, welchen Einfluss hat das Ausscheiden von Oliver Bierhoff auf die bereits begonnenen Gespräche zur Verlängerung?

"Oliver war mein Vorgesetzter, natürlich verändert das etwas, denn im DFB muss man schauen, wer diese Gespräche fortführt. Die ersten Gespräche mit Joti Chatzialexiou haben bereits stattgefunden, er möchte das Thema auch bearbeitet haben, weil es eine Wertschätzung ist. Ich bin gerne Bundestrainerin und persönlich sehr entspannt. Wir gehen erst mal in die besinnliche Zeit."

Und wie bewerten Sie das Bierhoff-Aus mit ein wenig Abstand?

"Ich habe allergrößten Respekt vor Olivers Entscheidung. Er hat 18 Jahre lang ganz viel Leidenschaft und Herzblut in seine Arbeit gesteckt. Und er hat beim DFB etwas Großartiges aufgebaut, nicht nur mit der Akademie."

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