08.08.2022 10:51 Uhr

Collinas Erben analysieren VAR-Ärger bei Köln vs. Schalke

Schalke musste lange Zeit zu Zehnt spielen
Schalke musste lange Zeit zu Zehnt spielen

Der erste Bundesliga-Spieltag dieser Saison verläuft für die Schiedsrichter relativ stressfrei. Nur beim Spiel des 1. FC Köln gegen den FC Schalke 04 gibt es größere Aufregung – aufgrund von gleich drei Eingriffen des Video-Assistenten gegen die Gäste. Einer davon war unnötig.

Bis zum Anpfiff der letzten Partie war der erste Spieltag der Saison 2022/23 in der Fußball-Bundesliga für die Schiedsrichter und ihre Video-Assistenten vergleichsweise ruhig verlaufen. Nennenswerte Kontroversen hatte es nicht gegeben, strittige Entscheidungen mit spielrelevantem Charakter waren rar. Das änderte sich am Sonntagabend in der finalen Begegnung zwischen dem 1. FC Köln und dem FC Schalke 04 (3:1), die von Robert Schröder geleitet wurde. Vor Wochenfrist hatte er das Spiel um dem Supercup zwischen RB Leipzig und dem FC Bayern München (3:5) zu beaufsichtigen, und das tat er so geräuschlos wie ausgezeichnet.

Das Match in Köln bot ungleich mehr Diskussionsstoff, und das bereits nach zehn Minuten. Da zog der Schalker Rodrigo Zalazar nach einer Freistoßflanke aus dem rechten Halbfeld und einem gescheiterten Klärungsversuch der Kölner von der Strafraumgrenze beherzt ab. Der Ball wurde von Ellyes Skhiri und Florian Dietz noch leicht abgefälscht und schlug dann im oberen rechten Torwinkel der Hausherren ein. Der Unparteiische gab den Treffer zunächst, doch dann schaltete sich Video-Assistent Sören Storks ein. Denn beim Torschuss hatte sich der Maya Yoshida in einer Abseitsposition befunden. 

Zwar hatte der Schalker Kapitän den Ball nicht berührt, sich aber zwei Meter vor dem Kölner Torwart Marvin Schwäbe aufgehalten und dort nach Einschätzung des VAR dessen Sichtlinie zum Ball beeinträchtigt. Nach dem Regelwerk ist das ein Abseitsvergehen, sofern ein Gegner – zumeist ist es der Torhüter – dadurch gehindert wird, "den Ball zu spielen oder spielen zu können", wie es im Regeltext heißt. Es geht dabei, wohlgemerkt, nicht um die Frage, ob der Keeper den Ball aufhalten und das Tor damit verhindern kann. Von Belang ist ausschließlich, ob er überhaupt an den Ball kommen kann, auch wenn es den Einschlag nicht verhindert.

Da das hier eine subjektive Entscheidung war, kam es zum On-Field-Review, nach dem sich Referee Schröder seinem Kollegen in der Videozentrale anschloss, auf strafbares Abseits von Yoshida erkannte und das Tor für die Gäste annullierte. Eine nachvollziehbare Entscheidung, denn die bewegten Bilder zeigen, dass der Schalker sich erst nach dem Schuss aus der Sichtlinie des Kölner Keepers bewegte, der seinerseits den Kopf recken musste, um den Ball in den Blick zu bekommen. In vergleichbaren Fällen in der jüngeren Vergangenheit wurde ein solches "Sichtlinienabseits" regelmäßig geahndet, die Regelauslegung von Robert Schröder fügte sich hier ein.

Rot für Schalkes Drexler war eine zu harte Entscheidung

Nach 35 Minuten kam es zur nächsten Intervention aus dem Kölner Video-Assist-Center, nach einer auf den ersten Blick harmlosen Situation. Bei einem Zweikampf im Mittelfeld brachte Dominick Drexler den Kölner Jonas Hector zu Fall, und vieles deutete auf ein Allerweltsfoul hin: Robert Schröder beließ es bei einem kurzen Pfiff, Hector war sogleich wieder auf den Beinen, es gab Shakehands mit Drexler, die Kölner wollten den Freistoß schnell ausführen. Doch der Unparteiische pfiff sie zurück, weil VAR Storks noch dabei war, die Szene zu überprüfen. Als er den Check abgeschlossen hatte, war er der Überzeugung, dass Drexlers Einsteigen feldverweiswürdig war. Deshalb riet er dem Schiedsrichter zum On-Field-Review. 

Auf dem Monitor am Spielfeldrand sah Schröder, dass der Ex-Kölner Drexler seinen früheren Mitspieler mit der offenen Sohle des linken Fußes an der rechten Wade getroffen hatte. Dieses sogenannte Trefferbild sprach für einen Feldverweis, den der Referee schließlich auch aussprach. Allerdings war der Kontakt von eher kurzer Dauer, Drexler rutschte danach mit dem Fuß an Hectors Unterschenkel herab. Der Tritt erfolgte außerdem ohne besondere Intensität und Dynamik. Das sind gewichtige Argumente gegen eine Rote Karte – und wenn man zudem bedenkt, dass Hector sofort weiterspielen wollte und konnte, kann man eine Gesundheitsgefährdung ausschließen, was einen Platzverweis ebenfalls als verzichtbar erscheinen lässt.

Womöglich war es hier die Zeitlupe, die das Urteil beeinflusst hat. Sie lässt das Foulspiel dramatischer aussehen als die Realgeschwindigkeit, in der der Schiedsrichter die Szene ebenfalls gezeigt bekommen hat: Der Tritt wirkt brutaler, intensiver, gefährlicher. Wenn darüber hinaus selbst das Opfer in diesem vom Gegner keineswegs hinterhältig, sondern lediglich engagiert geführten Zweikampf offensichtlich unversehrt geblieben ist und – was selten genug im Profifußball ist – keinerlei Aufhebens um das Foulspiel gemacht hat, ist eine Rote Karte eine übermäßig harte Sanktion. Der Unparteiische hätte nach dem On-Field-Review die Möglichkeit gehabt, es bei einer nachträglichen Verwarnung zu belassen. Damit hätten vermutlich alle leben können, weil es die angemessenere Disziplinarstrafe gewesen wäre.

Warum das 2:0 für Köln doch noch zählte

Ein drittes Mal intervenierte Video-Assistent Sören Storks nach etwas mehr als einer Stunde. Einen Einwurf von Benno Schmitz verlängerte Skhiri vor das Tor der Schalker, wo Torwart Alexander Schwolow aus seinem Gehäuse eilte und an der Torraumlinie den Ball zu fangen versuchte. Er konnte ihn aber nicht festhalten und ließ ihn wieder fallen, weil ihm sein Mitspieler Yoshida im Weg war, vor dem sich wiederum der Kölner Dietz befand, der sich passiv verhielt. Der Ball kam zu Sargis Adamyan, der an Schwolow und im Nachsetzen an Cedric Brunner scheiterte, bevor Florian Kainz ins Tor traf. Doch der Assistent hob die Fahne, weshalb Schiedsrichter Schröder den Treffer nicht gab.
Es ging um eine Abseitsposition bei Skhiris Hereingabe, wobei sich Dietz am Torraum knapp nicht im Abseits befand, anders als Adamyan, der den Ball anschließend durch Schwolows verunglückte Rettungsaktion erhielt. Robert Schröder gab das Kölner Tor nach Rücksprache mit seinem VAR schließlich doch, es war das 2:0 für die Gastgeber.

Zu einem On-Field-Review kam es nicht, was den Schluss nahelegt, dass das Schiedsrichterteam ursprünglich fälschlicherweise Dietz im Abseits gesehen und sein Verhalten als ahndungswürdig im Sinne der Abseitsregel bewertet hatte. Da der Kölner sich aber gar nicht im Abseits befand, war es auch nicht nötig, dass sich Schröder am Monitor selbst ein Bild machte.

Bei Adamyan lagen die Dinge komplizierter. Er war bei Skhiris Hereingabe im Abseits, was aber erst relevant hätte werden können, als er den Ball vom Schalker Torwart Schwolow erhielt. Die Frage war hier, ob es sich bei Schwolows missglücktem Versuch, den Ball zu fangen, um ein "absichtliches Spielen des Balles" – der englische Begriff "deliberate play" hat sich inzwischen auch in Deutschland eingebürgert – handelte oder nur um ein unkontrolliertes Ablenken des Balles. Bei einem "deliberate play" wäre das Abseits aufgehoben gewesen, bei einem unkontrollierten Ablenken nicht.

Geänderte Auslegung der "Deliberate play"-Regelung

Die Regelhüter vom International Football Association Board (Ifab) und die Fifa haben kürzlich die Auslegung der Deliberate-play-Regelung modifiziert. Weiterhin gilt zwar: Das Abseits eines Angreifers ist aufgehoben, wenn dieser den Ball von einem gegnerischen Spieler erhält, der ihn absichtlich spielt. Geändert hat sich aber die Definition, was unter einem "absichtlichen Spielen" zu verstehen ist: Wenn der betreffende Spieler den Ball kontrolliert oder die Möglichkeit dazu hätte – etwa in Form eines Passes zum Mitspieler, der Ballannahme oder einer Klärungsaktion –, dann liegt ein "deliberate play" vor. Bis dato wurde die Abseitsstellung eines Gegners bereits durch das beabsichtigte, aber unkontrollierte Spielen des Balles aufgehoben, wie etwa bei einer Grätsche in höchster Not.

War Schwolows erfolgloser Versuch, den Ball zu fangen, ein "deliberate play" und Adamyans Abseitsposition damit aufgehoben? Viel spricht dafür: Der Ball kam nicht überraschend, nicht aus kurzer Distanz, nicht mit großer Geschwindigkeit und nicht aus einer unerwarteten Richtung, sondern er war eine Weile unterwegs, und Schwolow hatte ihn fest im Blick. Er hatte Zeit, seine Körperbewegungen zu koordinieren, und hat nicht reflexartig und nicht unkontrolliert reagiert. Der Schlussmann hätte nach dem gezielten Herauslaufen den Ball problemlos mit den Fäusten aus dem Strafraum befördern können, also die Möglichkeit einer kontrollierten Aktion gehabt. Doch er blieb aus eigenem Verschulden aufgrund einer falschen Entscheidung an seinem Mitspieler Yoshida hängen.


Mehr dazu: Die besten Netz-Reaktionen zu Köln vs. Schalke


In den geänderten Anweisungen des Ifab heißt es, dass ein "deliberate play" auch dann gegeben ist, wenn die Möglichkeit besteht, eine kontrollierte Aktion wie eine Klärung oder einen Pass auszuführen, die Ausführung selbst aber ungenau ist oder misslingt, etwa aufgrund einer technischen Schwäche oder eines schlechten Timings. Das war bei Schwolow der Fall. Auch aus diesem Grund lag kein strafbares Abseits vor, weshalb der Treffer zum 2:0 für den 1. FC Köln zu Recht zählte. Allerdings hätte sich Schiedsrichter Robert Schröder die Szene eigentlich noch einmal im On-Field-Review ansehen müssen, weil es sich wiederum um eine subjektive Entscheidung handelte.

So standen am Ende drei Eingriffe des Video-Assistenten mit drei daraus resultierenden geänderten Entscheidungen zu Buche, sämtlich gegen die Schalker. Nicht nötig war dabei der zweite, der zu einem sehr harten Feldverweis gegen Drexler führte; für die anderen beiden Interventionen gab es gute Gründe. Robert Schröder wäre gleichwohl vermutlich froh, wenn es für ihn im weiteren Verlauf dieser Saison ähnlich liefe wie in der vergangenen: Da griff der VAR bei seinen Spielen kein einziges Mal ein.

Alex Feuerherdt

Online-Wettanbieter: bet365 | Interwetten | sportingbet | Tipico Sportwetten