Überzogen oder angebracht? Die Marsch-Aussage im Check

Ist Vizemeister RB Leipzig ein heißer Anwärter auf den Titel? Trainer Jesse Marsch jedenfalls sieht seine Mannschaft in einem Punkt bereits vor dem FC Bayern. Wir stellen die Roten Bullen auf den Prüfstand.
Leipzigs neuer Trainer Jesse Marsch konnte seine neue Aufgabe bereits Ende April, als er als Nachfolger von Julian Nagelsmann bekannt gegeben wurde, kaum erwarten. "Ich freue mich am meisten auf die Qualität der Mannschaft. Fast jede Position ist doppelt besetzt."
Nachdem sich der 47-Jährige in der Vorbereitung ein ausführliches Bild machen konnte, sprach er vom "vielleicht breitesten Kader der Liga". Im Grunde genommen könne Leipzig "zwei Bundesligamannschaften stellen". Eine erste Kampfansage an Serienmeister Bayern München. Ist das bloß das viel gerühmte amerikanische Selbstverständnis oder hat Jesse Marsch recht?
RB Leipzig stellte die beste Defensive 20/21
Blicken wir auf die Abwehr, bleiben einige Fragezeichen. Denn die Defensive müsste Marsch eigentlich leichtes Kopfzerbrechen bereiten. Hat Leipzig neben Julian Nagelsmann nicht auch seinen Abwehrchef Dayot Upamecano an den amtierenden Meister abgegeben? Außerdem wechselte der ebenfalls hoch veranlagte Ibrahima Konaté für 40 Millionen Euro zum FC Liverpool.
Es fehlen also direkt zwei entscheidende Akteure aus jener starken Defensive, die der Grundstein für die zweite Vizemeisterschaft im Sommer war: Die Sachsen stellten mit 32 Gegentoren die beste Abwehr der Liga, spielten 15 Mal zu null und ließen die mit Abstand wenigsten gegnerischen Schüsse zu (266).
Wie fängt RB diese Verluste auf? RB hat zumindest seine alten Stützen Péter Gulácsi und Willi Orban gehalten und zwei vielversprechende Talente geholt. Immerhin für ein Gesamtpaket von knapp 34 Millionen Euro: Den 21-jährigen Mohamed Simakan aus Straßburg und den 19-jährigen Josko Gvardiol von Dinamo Zagreb. Ob die beiden sofort ein hohes Niveau in der Bundesliga erreichen, wird sich zeigen müssen. An der Seite des erfahrenen Orban können die Neuzugänge auf jeden Fall reifen.
Schaut man lediglich auf die Abwehrkette – unter Jesse Marsch dürfte es eine Viererkette sein – lässt sich hier lediglich eine einzige bundesligataugliche Mannschaft aufstellen, keine zwei.
Offensive: André Silva und viele Optionen
Schier unendliche Möglichkeiten gibt jedoch die Offensivabteilung her, die in der Vorsaison vielleicht der entscheidende Nachteil gegenüber dem FC Bayern war. Leipzig gehörte mit nur 60 Toren nicht zu den Top 5 der Liga, Marcel Sabitzer war mit lediglich acht Treffern der beste Torschütze. Ein echter Goalgetter fehlte.
Hier haben sich die Roten Bullen deutlich breiter aufgestellt: Mit André Silva kam der 28-Tore-Mann aus der Vorsaison von Eintracht Frankfurt, zudem mit Brian Brobbey von Ajax Amsterdam ein echter Brecher – ein Stürmertyp, der Leipzig bisher fehlte.
Jesse Marsch und seine ehemaligen Schützlinge
Ein gefühlter Neuzugang ist Dominik Szoboszlai, der verletzungsbedingt seit seinem Wechsel im Januar kaum zum Einsatz kam. Der Ungar hatte seine beste Zeit in Salzburg und zwar unter Trainer Jesse Marsch (22 Tore und 29 Vorlagen in 63 Spielen).
Apropos: Ein ehemaliger Mitspieler von Szoboszlai und Schützling von Marsch ist Hee-Chan Hwang (16 Tore, 24 Assists unter Marsch), der in Leipzig seit seinem Wechsel im Sommer 2020 noch nicht angekommen ist. Vielleicht gelingt dem Koreaner nun der erhoffte Durchbruch.
Ein klares Plus also für den Titelanwärter. Viele Spieler kennen und schätzen den charismatischen Trainer. Aus gemeinsamen Salzburger Zeiten oder auch aus Leipzig, wo Marsch Co-Trainer von Ralf Rangnick war. Wie etwa die RB-Urgesteine Yussuf Poulsen oder Willi Orban. "Ein Trainer, für den man durchs Feuer geht", sagte der Ungar kurz vor Saisonbeginn.
Zurück zur breiten Offensive: Nicht zu vergessen sind Emil Forsberg, der genauso eine hervorragende EM spielte wie Spaniens Dani Olmo. Zusammen mit Christopher Nkunku sammelte das Trio in der vergangenen Bundesligasaison die meisten Scorerpunkte für RB. Ja, offensiv hat Leipzig den breitesten Kader und könnte mindestens zwei Mannschaften stellen
Wechselt Sabitzer? Keine "Top1-Prio" für den FC Bayern
Vieles wird in der Umschaltbewegung von Defensive auf Offensive jedoch davon abhängen, ob Kapitän Marcel Sabitzer den Leipzigern erhalten bleibt oder zu den Bayern wechselt. "Es ist kein Geheimnis, dass Julian an Sabi interessiert ist", weiß auch Marsch und fügte hinzu: "Er hat nur noch ein Jahr Vertrag - lasst uns sehen, was mit ihm passiert."
Genau dieses eine Jahr Vertrag ist die Krux. Will RB eine Ablöse einstreichen, müsste der Klub seinen Kapitän noch in diesem Sommer ziehen lassen.
Laut jüngsten "Sport1"-Informationen habe die Verpflichtung des Österreichers aber momentan keine "Top-1-Prio" bei den Verantwortlichen des FC Bayern.
Sollte der Österreicher den Roten Bullen in diesem Sommer den Rücken kehren, wäre der "vielleicht breiteste Kader der Liga" jedenfalls um ein wichtiges Puzzleteil ärmer. Das müsste dann auch Marsch eingestehen.
Fazit: Offensiv ist Leipzig tatsächlich am breitesten aufgestellt, qualitativ und quantitativ. In der Rückwärtsbewegung hängt jedoch vieles am Verbleib von Kapitän Sabitzer und der neu aufgestellten Abwehr.
Lars Wiedemann