Favre beim BVB: Eher Aussortierer als Bessermacher

Als Borussia Dortmund am 22. Mai 2018 verkündete, dass Lucien Favre das Ruder übernehmen werde, war den BVB-Machern klar, dass sie keinen Menschenfänger à la Jürgen Klopp oder welt- und wortgewandten Mister Abgeklärt à la Thomas Tuchel ins Amt erhoben haben. Favre wurden andere Qualitäten nachgesagt, erfüllen konnte er die Erwartungen allerdings nur bedingt.
Favre wirkt in seinem Auftreten kauzig, teils sogar verwirrt bis überfordert, lässt bei seinen Formulierungen mehr Spielraum für Interpretationen als so manches Kirmes-Orakel und neigt zu anstrengend trockenem Humor. Kurz: Müssten die Medien von den Aussagen des Schweizers zehren, sie würden elend verhungern.
Dennoch war sich die Fußball-Fachwelt einig: Dem BVB war mit der Verpflichtung von Favre ein Geniestreich gelungen. Favre habe "auf jede Situation die perfekte Antwort", lobte DFB-Legende Lothar Matthäus gegenüber "Sky", Ex-Hertha-Manager Dieter Hoeneß erhob den Eidgenossen zumindest auf dem Trainingsplatz in eine Liga mit Star-Coach Pep Guardiola und Max Eberl von der Konkurrenz aus Gladbach bedauerte, Favre sei "leider eine gute Entscheidung" der Dortmunder. Größtes Pfund Favres, waren sich die Experten einig, sei jedoch, dass er mit seiner akribischen, detailversessenen Art schlicht jeden Spieler besser mache.
"Die Entwicklung einer Mannschaft ist nie vollendet", bekräftigte Favre selbst bei seiner Vorstellung im Ruhrgebiet, dass es immer die ein oder andere Kleinigkeit herauszukitzeln gebe. BVB-Boss Hans-Joachim Watzke zeigte sich begeistert darüber, wie Favre Spieler "mit Kleinigkeiten seziere" und so versuche, sie besser zu machen.
Eher Aussortierer als Bessermacher
Eine Saison später darf die erfolgreiche Umsetzung zumindest hinterfragt werden. André Schürrle, seit seiner Unterschrift bei den Schwarz-Gelben im Sommer 2016 eigentlich chronisch auf Formsuche, wurde schon vor Saisonbeginn ausgemustert, im Winter mussten Shinji Kagawa, Alexander Isak und Jeremy Toljan das Weite suchen. Allesamt Akteure, die in ihrer Karriere bereits bessere Zeiten erlebten, vom "Bessermacher" Favre allerdings nicht wieder an diese herangeführt werden konnten.
Damit aber nicht genug: Mit Maximilian Philipp, 2017/18 noch einer der wenigen Lichtblicke, Favres einstigem Lieblingsschüler aus Gladbacher Zeiten, Mo Dahoud, Abwehr-Routinier Ömer Toprak und Top-Talent Christian Pulisic verzeichneten weitere Spieler sogar einen klaren Leistungsabfall. Bezeichnend: Pulisic verlässt den BVB, Dahoud, Toprak und Philipp sollen angeblich weg.
Auch das Schicksal von Julian Weigl gibt zu denken: Zwar fand der 23-Jährige im Saisonverlauf im Abwehrzentrum auf ungewohnter Position einen Platz in Favres BVB-Gebilde, der Bayer, der sich dem BVB 2015 anschloss, durchstartete und zum Gesicht der Borussen sowie zum Nationalspieler avancierte, absolvierte allerdings lediglich in seiner ersten Profisaison weniger Minuten als in der letzten Spielzeit.
Angesichts des im Sommer 2018 eingeleiteten Umbruchs in Dortmund und zahlreicher Neuzugänge war zwar zu erwarten, dass der ein oder andere weniger zu Zug kommt, wie konsequent Favre, allen Personalsorgen zum Trotz, einige Kicker ignorierte, überrascht dennoch.
Favres Erfolg mit dem BVB ist unbestritten
Unbestritten ist hingegen, dass Favre den BVB zurück in die Erfolgsspur geführt hat. Zitterte man sich 2018/19 noch mit 55 Punkten in die Champions League, verpasste Favre mit den Borussen ein Jahr später mit 76 Zählern nur knapp den Titel. Zudem schoss Dortmund unter Favre 17 Tore mehr und kassierte drei Tore sowie fünf Niederlagen weniger. Namhafte Neuzugänge dürfen aber natürlich auch bei dieser Steigerung nicht ausgeklammert werden.
Wo der Weg hinführt, wird die anstehende Saison zeigen. Bereits jetzt hat Favre mit Thorgan Hazard, Nico Schulz und Julian Brandt drei neue Stars für etwa 75 Millionen Euro bekommen, garniert wurden die Verpflichtungen allerdings mit der Ansage, der BVB wolle den Bayern auch 2019/20 auf Augenhöhe begegnen. "Es ist an der Zeit, etwas ambitionierter aufzutreten. Wir werden mit der klaren Maßgabe in die neue Saison gehen, dass wir wieder versuchen werden, um die deutsche Meisterschaft mitzuspielen", stellte Watzke klar.