07.06.2016 13:37 Uhr

EM 1972: Von Katzen, Kaisern und Putzern

Netzer im EM-Endspiel gegen die Sowjetunion
Netzer im EM-Endspiel gegen die Sowjetunion

44 Jahre ist es her, dass Deutschland seinen ersten EM-Titel holte. In Belgien zelebrierten die DFB-Kicker Kombinationsfußball par excellence und wurden von Kritikern und Fans gleichermaßen gefeiert.

Erinnert man sich an die Europameisterschaft 1972, führen die Gedanken sofort zu der Mannschaft, die als "Wembley-Elf" in die deutschen Fußball-Annalen einging. Franz Beckenbauer, Günter Netzer, Gerd Müller und Co. spielten sich unter der Regie von Bundestrainer Helmut Schön im Viertelfinalhinspiel - damals noch Teil der Qualifikation - mit Passstafetten zum Überraschungssieg in der heiligsten Fußballstätte Englands.

Das damalige Team gilt bis heute als die spielstärkste Mannschaft, die je im DFB-Trikot aufgelaufen ist. 2011, wohlgemerkt vor dem 7:1 gegen die Brasilianer bei der WM 2014, drückte die "Sport Bild" dem Spiel gegen die englische Auswahl den Stempel des "größten deutschen Länderspiels aller Zeiten" auf.

Dabei standen die Vorzeichen vor jener richtungsweisenden Partie im Wembley Stadion denkbar schlecht. Noch nie hatte eine deutsche Mannschaft auf englischem Boden gewonnen. Die 100.000 englischen Fans waren für die Spieler der Gäste in den Katakomben gut zu hören. Kein Wunder also, dass Netzer dem "Kaiser" seine Bedenken mitteilte: "Franz, wenn wir hier weniger als fünf Stück kriegen, haben wir ein Riesenresultat erzielt."

Englische Medien bejubeln "brillanten Fußball"

Stattdessen gewann die DFB-Wunderelf mit 3:1. Sie spielte derart leichtfüßig, dass sogar englische Medien jubilierten. "Dank der Deutschen gibt es jetzt wieder jenen brillanten Fußball in Europa, den die Ungarn früher so unnachahmlich zeigten", schrieb damals der "Daily Telegraph". Mit 2,9 Metern pro Sekunde bewegte sich der Lederball durch die deutschen Reihen, stellten später die Statistiker fest. Zum besseren Verständnis: War England im Ballbesitz, so legte das Spielgerät lediglich 1,64 Meter zurück.

In der Abwehr sorgte Franz Beckenbauer höchstpersönlich für Ordnung und Spielaufbau. Zusammen mit Georg Schwarzenbeck, dem "Putzer des Kaisers" und einem blutjungen Paul Breitner hielt er den Laden hinten dicht. Kamen die Gegner doch mal vors Tor, verfügte die Schön-Elf mit der "Katze von Anzing" Sepp Maier über einen sicheren Rückhalt.

Eine Reihe weiter vorne zog Günter Netzer die Fäden. Der offensive Mittelfeldspieler zeigte in Wembley wahre Sechser-Qualitäten. Allerdings waren es nach der Ballaufnahme kurz vor der Abwehr keine Schnittstellen-Pässe, die das Spiel eröffneten, sondern unwiderstehliche Solo-Läufe. Netzer spielte "aus der Tiefe des Raumes" so überzeugend, dass er ein Jahr später nach Spanien zu Real Madrid wechselte und drei Jahre lang seine Haare im weißen Ballett wehen ließ.

Dem begnadeten Standfußballer, dem nachgesagt wurde, er sei ein Rolls Royce ausgestattet mit dem Motor eines Rasierapparats, stand Herbert "Hacki" Wimmer zur Seite. "Wimmer ist Alltag, ich bin Sonntag", philosophierte Netzer einst über den Mann, der ihn bei seinen zahlreichen Ausflügen absicherte und Netzers berühmten Stil erst ermöglichte.

Für das Toreschießen war ein gewisser Gerd Müller zuständig. Der "Bomber der Nation" zauberte mit seinen Buden auch in den unmöglichsten Situationen mit schöner Regelmäßigkeit Sorgenfalten auf die Gesichter der Gegner. Dass der Rest Fußball-Europas ihn fürchten musste, bewies der Bayern-Star mit seinen elf Treffern während des Turniers. Vier davon erzielte er in den zwei Endrundenspielen. Den Titel des Torschützenkönigs hatte Müller damit sicher.

"Es war eine andere Zeit"

Acht Wochen nach dem Sensationserfolg im Mutterland des Fußballs jubelte ganz Deutschland über den Gewinn des EM-Titels. Sowohl mit den Belgiern (1:2), als auch mit der Sowjetunion im Finale (3:0) hatte die DFB-Auswahl keine Probleme mehr. Der Coupe Henri-Delaunay ging in die Bundesrepublik. Zwei Jahre später gelang sogar der Gewinn des WM-Pokals.

Vergleiche mit der heutigen Zeit verbieten sich freilich. Auch wenn Sepp Maier zugibt, dass das Niveau heute deutlich höher anzusiedeln ist: "Ich habe mir einmal das Spiel unserer sogenannten Jahrhundert-Elf komplett als Video angeschaut und gedacht: 'Das gibt’s doch nicht, das kann nicht wahr sein. So langsam! Wie in Zeitlupe!' Das kann man mit der Athletik des heutigen Spiels nicht vergleichen." Auch Bundestrainer Joachim Löw stellte zuletzt klar: "Es war eine andere Zeit."

Angriffspressing und Rückpassregel waren Fremdworte. Auch die Prämien der Spieler lagen einige Dimensionen unter den heutigen: Nach dem Finalgewinn hätte es 10.000 Mark vom DFB und nochmal 10.000 von Adidas gegeben, erklärte Maier kürzlich. Für den WM-Gewinn 2014 bekam jeder Spieler 300.000 Euro.

An die Brillanz der '72iger kamen die Löw-Schützlinge jedoch nicht heran.

Simon Lürwer

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