22.06.2018 13:11 Uhr

Cherchesov dank WM-Erfolgen Russlands neuer Volksheld

Stanislav Cherchesov steht mit Russland im Achtelfinale
Stanislav Cherchesov steht mit Russland im Achtelfinale

Trainer Stanislav Cherchesov wurde vor dem WM-Start von seinen Landsleuten belächelt. Und jetzt? Liegen ihm das russische Volk und die hohe Sportpolitik zu Füßen.

Stanislav Cherchesov wurde belächelt und bereits als willkommener Prügelknabe auserkoren, als sein markanter Schnäuzer für einen kleinen Stimmungsumschwung sorgte. Ivan Urgant, ein beliebter Late-Night-Talker im WM-Gastgeberland, initiierte die Aktion "Schnurrbärte der Hoffnung". Er forderte die Menschen auf, sich einen Oberlippenbart wachsen zu lassen und damit Solidarität mit dem Nationaltrainer zu zeigen: "Alles spricht gegen ihn: die Prognosen, das Wetter, die Gesetze der Physik, die Anatomie einiger Spieler, die ganz banale Logik."

Und siehe da: Tausende Russen posteten im Internet Schnäuzer-Bilder. Männer mit kräftigen Borsten, Frauen mit aufgemalten Kunstwerken, Babys mit Milchbärten. Der Einfluss der Aktion lässt sich zwar nicht bemessen, aber fest steht: Seit dem Anpfiff zur WM steht Russland hinter dem zuvor umstrittenen Trainer Cherchesov. Nach den beiden überzeugenden Siegen gegen Saudi-Arabien (5:0) und Ägypten (3:1) liegt ihm die hohe Politik sogar zu Füßen.

Cherchesov gebühre "große Ehre und Respekt, dass er dieses Team geformt hat", sagte Sergej Anochin der Nachrichtenagentur "Tass". Der Vizepräsident des russischen Fußballverbandes stellte zufrieden fest: "Alle Kritik hat sich in Lob verwandelt." Auch Vize-Ministerpräsident Vitaly Mutko, der wegen der Doping-Affäre im russischen Sport seinen Posten als WM-OK-Chef räumen musste, schwärmt über die Arbeit des Trainers: "Es gibt ein Team, und es hat eine Idee."

Russen-Coach hofft noch auf "viele schöne Tage"

Cherchesov nimmt den plötzlichen Hype um seine Person genauso gelassen hin, wie der frühere Torhüter von Dynamo Dresden zuvor die heftige Kritik an sich abperlen ließ. Der Stoiker mit der Glatze sagt lediglich: "Ich hoffe, dass noch viele schöne Tage kommen." Viel euphorischer wird der 54-Jährige auch bei einem dritten Sieg am Montag in Samara gegen das ebenfalls noch ungeschlagene Uruguay nicht klingen.

Cherchesov ist seit 36 Jahren im Geschäft Profifußball. Er weiß, dass gerade in Russland nur Leistung zählt. Es ist erstaunlich, wie ruhig und besonnen er auf die vernichtenden Schlagzeilen nach sieben Spielen ohne Sieg und dem Absturz auf Weltranglistenplatz 70 reagiert hatte. "Wenn dich niemand kritisiert", sagte er, "dann bedeutet das, dass es kein Schwein interessiert, was du machst."

Neuerungsprozess seit EURO-Fiasko

Cherchesov hatte die große Aufgabe, einen Neuerungsprozess in einer Mannschaft einzuleiten, die nach der EURO vor zwei Jahren in Frankreich am Boden lag: überaltert, technisch und taktisch zweitklassig, ohne Zusammenhalt. Cherchesov integrierte junge Talente wie die Miranchuk-Zwillinge Anton und Alexey, er setzte auf flache Hierarchien und führte einen bei Jupp Heynckes abgeschauten Spielstil ein: "Effektiv, ökonomisch, schnörkellos", sagt Cherchesov.

Weil kaum ein russischer Spieler stark genug für Europas Topligen ist, setzt er notgedrungen auf Profis aus der heimischen Liga. Und die hat Cherchesov im wahrsten Sinne des Wortes zum Laufen gebracht: Gegen Saudi-Arabien rannten die Russen 12,61 Kilometer mehr als der Gegner, das entspricht grob gerechnet einem zusätzlichen Feldspieler. Auch gegen Ägypten war der WM-Gastgeber (+5,61) in dieser entscheidenden Statistik klar besser.

Cherchesov weiß, dass Leidenschaft oft Klasse schlägt - vor allem mit dem Heimvorteil im Rücken. Seinen Schnäuzer braucht es jetzt nicht mehr für einen Stimmungsumschwung.

Online-Wettanbieter: bet365 | Interwetten | sportingbet | Tipico Sportwetten