04.09.2015 08:00 Uhr

Marcel Koller: Der ÖFB-Glücksfall

Marcel Koller: Er bringt Österreich in den Flieger zur EM 2016
Marcel Koller: Er bringt Österreich in den Flieger zur EM 2016

Bereits am Samstag (ab 20:45 Uhr im weltfussball-Liveticker) kann Österreich als erste Mannschaft auf sportlichem Weg das Ticket zur Europameisterschaft 2016 in Frankreich lösen. Verantwortlich dafür ist mit Marcel Koller ein echter Glücksfall als ÖFB-Teamchef.

Der Schweizer führte die Nationalmannschaft des östlichen Nachbarlandes aus dem sportlichen Tal der Tränen. Seit der Weltmeisterschaft 1998 verpasste das ÖFB-Team zuletzt jede einzelne Qualifikation, an der es teilnahm: Der Titel des Kultfilms "Die glorreichen Sieben" erhielt durch eine siebenfache Kultur des Scheiterns (EM 2000, WM 2002, EM 2004, WM 2006, WM 2010, EM 2012 und WM 2014) als "Die tragischen Sieben" neue traurige Bedeutung.

Nur die gemeinsame Veranstalterrolle mit der Schweiz bei der Europameisterschaft 2008 brachte Österreich zurück auf die internationale Fußball-Landkarte. Man war schnell wieder von ihr verschwunden. Doch dann änderte sich im Herbst 2011 der ÖFB-Kurs nachhaltig. weltfussball blickt zurück auf jene Entscheidung, die sich als goldrichtig erweisen sollte.

Taktik wurde überbewertet und Scharner bewarb sich als Spieler-Trainer

September 2011: Nach einem starken Start in die EM-Qualifikation war die rot-weiß-rote Auswahl danach wieder einmal noch stärker zurückgefallen. Nach vier Pleiten in Folge wurde durch eine Nullnummer daheim gegen die Türkei endgültig die letzte Chance auf eine Teilnahme an der Europameisterschaft 2012 verspielt.

Teamchef Dietmar Constantini hatte es in seiner Ära ohnehin schon geschafft mit dem bemerkenswerten Satz "Taktik wird überbewertet" alle Fußball-Lehrbücher über den Haufen zu werfen. Für ihn erstaunlicherweise, ohne damit Erfolg zu haben. Sein mit Jahresende 2011 auslaufender Vertrag wurde nicht verlängert, worauf Constantini sich bereits vor den beiden letzten Auswärtsspielen in Aserbaidschan und Kasachstan verabschiedete.

ÖFB-Sportdirektor Willibald Ruttensteiner durfte als Interimscoach einspringen, während sich Verbandsboss Leo Windtner auf die Suche nach einem neuen Teamchef machte. Der Oberösterreicher hatte als ÖFB-Präsident im für die Ernennung maßgeblichen Direktorium das Vorschlagsrecht, wollte davon allerdings erst nach Rücksprache mit diversen Experten Gebrauch machen.

Unterdessen brachte sich Paul Scharner als Spielertrainer ins Gespräch ("Ich weiß genau, was intern abläuft und der Erfolg ist ja scheinbar eh nur zweitrangig. Es ist mir todernst"), "Bild" vermeldete bereits die Einigung mit Sturm-Coach Franco Foda und österreichische Tagezeitungen lieferten sich ein Rennen, um ihre Lieblinge Kurt Jara und Andreas Herzog in Stellung zu bringen. Man musste das Schlimmste befürchten.

"Bestellung von Koller ein schweres Foul am österreichischen Fußball"

Doch es kam keiner der gehandelten Kandidaten zum Zug, Anfang Oktober wurde völlig überraschend Marcel Koller als neuer Teamchef präsentiert. Neben Lars Lagerbäck ("Ich hatte ein sehr gutes Wiener Schnitzel") hatte sich der ÖFB auch bei anderen internationalen Betreuern umgesehen und war dabei auf den Schweizer gestoßen.

Willkommen geheißen wurde Koller zunächst fast überwiegend mit einer Front der Ablehnung. Die "Tiroler Tageszeitung" titelte: "Ein Eidgenosse mutiert zum Leidgenossen. Im heimischen Fußball-Lager macht sich ein Koller breit." In einem Kommentar wurde auch von "einem schweren Foul am rot-weiß-roten Fußball" geschrieben, weil man keinen österreichischen Kandidaten genommen hatte.

(Dem Fußball-)Gottseidank. Nicht nur eine an Peinlichkeit kaum mehr zu überbietende Talkrunde zeigte die damalige Stimmungslage von ORF-"Experten" und anderen verbalen Schaumschlägern.

Von Platz 77 auf Rang 13 und zum Liebling der Fans

Marcel Koller jedoch reagierte nicht auf Seilschaften und Geschmacklosigkeiten eines Landes, welches in der FIFA-Weltrangliste auf Platz 77 (hinter Ländern wie Sierra Leone oder Gabun) lag. Er stürzte sich in seine Arbeit. Österreichs Nationalmannschaft wurde mit einer klaren Spielphilosophie versehen: Mit dem Pressing seiner extrem laufstarken Mannschaft wurde der spätere Weltmeister Deutschland zum Auftakt der WM-Qualifikation an den Rand einer Pleite gebracht.

Die Fans waren begeistert. Sie stürmten auch bei den folgenden Heimspielen gegen Kasachstan, Schweden und Irland den Prater. Nicht nur die Stimmung im Ernst Happel-Stadion sondern auch die Leistungen der Hausherren bei den folgenden Siegen zeigten endgültig die Trendwende. Eine unglückliche 1:2-Niederlage in Schweden am 11. Oktober 2013 beendete jedoch den Traum von einer WM-Teilnahme.

Noch schlimmer: Teamchef Koller war zum Objekt der Begierde für Vereine aus Deutschland und der Schweiz geworden. In seiner Heimat hätte er sogar die Nachfolge von Ottmar Hitzfeld als Coach der "Nati" antreten können. Eine österreichische Tageszeitung stempelte den Erfolgstrainer bereits als "Söldner" ab. Blöd für die in diesem Fall wirkliche Lügenpresse nur, dass er genau das Gegenteil tat und seinen Vertrag in Österreich verlängerte.

Marcel Koller: Ein Mann, ein Wort

Er brauche Zeit und stehe mit seiner Mannschaft noch lange nicht am Ende der Entwicklung hatte Marcel Koller immer wieder betont. Mit seinem Verbleib bewies er, dass dies - im Gegensatz zu einigen Vorgängern - keine leeren Worte waren. Die laufende EM-Qualifikation sollte seine Meinung mehr als nur bestätigen.

Nach dem Auftakt-Remis daheim gegen Schweden ließ das ÖFB-Team fünf Pflichtspielsiege hintereinander folgen. Der Schweizer hatte es ohnehin schon vor der ersten Partie ungewohnt offensiv betont: "Schlussendlich werden wir bei der EM dabei sein!" Als er von weltfussball mehrmals darauf angesprochen wurde, reagierte Koller zunächst zurückhaltend. Später griff dann sein Pressechef ein und ließ im Land der fußballerischen Kleingeister etwas dementieren, was ohnehin schon wie ein Lauffeuer grassierte: Das Feuer der Begeisterung für die EM 2016.

Österreich mit seinem Abwehr-Bollwerk Aleksandar Dragović und Martin Hinteregger, Mittelfeldmotor Julian Baumgartlinger, Superstar David Alaba, dem begnadeten Techniker Marko Arnautović, Laufwunder Zlatko Junuzović und Sturmtank Marc Janko macht Spaß wie schon lange nicht. Dieses Team hat Qualität, Disziplin und Leidenschaft. Eine Nationalmannschaft mit Zukunft, obwohl sie mittlerweile in der Weltrangliste bereits auf Platz 13 vorgestürmt ist.

Nach der EM ist vor der WM

Diese Truppe bei der Europameisterschaft im kommenden Sommer verspricht großes Kino. Leben wie ein Gott in Frankreich und dabei Alaba und Co. genießen. Kein Wunder, dass der ÖFB seine Mitglieder des Fan-Clubs "Immer wieder Österreich" bei den Wünschen nach EM-Tickets bereits mit einem offenem Brief um Geduld bitten musste.

Die EM 2016 lockt, doch durch die alles andere als unlösbare Auslosung für die nächste WM-Qualifikation rückt auch bereits die Weltmeisterschaft 2018 in den Fokus. Hoffentlich mit jenem Teamchef, der auch aktuell in Amt und Würden ist. ÖFB-Boss Windtner meinte zuletzt im weltfussball-Interview: "Die österreichischen Fußballfans, so mein Eindruck vom Hineinhören, wollen durchaus gerne mit Marcel Koller in die WM-Qualifikation."
>> Windtner: Fans wollen mit Koller in WM-Quali

Herr Präsident, sie täuschen sich nicht!

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Christian Tragschitz

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