23.05.2014 09:40 Uhr

Der gefallene Imperator

Adriano erzielte in 27 Champions-League-Spielen 14 Tore
Adriano erzielte in 27 Champions-League-Spielen 14 Tore

Brasil Inside: In Südamerika überrascht immer wieder, wie unterschiedlich die Wahrnehmung bestimmter Spieler in Europa ist. Manche sind hier "No Names" und drüben große Stars. Andere sind in den großen Ligen vergessen und in der Heimat ewige Helden. So der brasilianische Stürmer Adriano, der nun endgültig gescheitert ist und dennoch verehrt wird.

Tschiowane wer?

Kaum ein Brasilianer kennt Giovane Elber. Bayerns allzeitgeliebter "Tschiowane" wechselte sehr jung nach Europa und ist trotz seiner äußerst erfolgreichen Zeit in der Schweiz, in Deutschland und Frankreich in seiner Heimat nur in blasser Erinnerung. Einige Länderspiele und eine Frührentner-Saison Brasiliens erster Liga halfen dem WM-Experten der ARD auch nicht in das Bewusstsein der Fans.

In den immer fortlaufenden Mühlen des Fußballgeschäfts ist in Europa wiederum Adriano fast zermahlen und vergessen. Nicht aber so in seiner Heimat Rio de Janeiro. Während er nach seinen mehrfachen Intermezzi in Italien als gescheiterter Partylöwe archiviert wurde, ist er für die Anhänger des beliebtesten brasilianischen Vereins Flamengo noch immer eines der größten Idole der jüngeren Vereinsgeschichte.

Adriano Leite Ribeiro stammt aus Vila Cruzeiro, eine der besonders gefährlichen der hunderten Favelas von Rio de Janeiro. 2000 erfüllte er sich den Traum von über 50 Millionen rot-schwarzen Fans im Land: Er debütierte in Flamengos Profiteam. Schnell spielte sich der bullige Linksfuß in die Herzen der "Flamenguistas" und gewann gleich in seinen ersten beiden Jahren die begehrte Regionalmeisterschaft von Rio de Janeiro.

Der Imperator bei Inter Mailand

In Europa wurde man hellhörig und schließlich war es Massimo Morattis Geldbörse, die den Stürmer über den großen Teich lockte. Bei Inter Mailand herrschte aber gewohntermaßen großes Gedrängel im Angriff, sodass Adriano zunächst zum AC Florenz und kurz darauf nach Parma ausgeliehen wurde. In der Winterpause 03/04 kehrte er als brandgefährlicher Mittelstürmer zurück und ging für die Nerazzurri über drei Jahre lang erfolgreich auf Torejagd. Italiens Sportpresse hatte ihm zudem einen grandiosen Spitznamen verpasst: Adriano "l'imperatore".

2006 verstarb Adrianos Vater. Ein Ereignis, das den Imperator von nun an schwer ins Straucheln brachte. Depressiv flüchtete er sich in den Alkohol. Seine Leistungen sanken rapide, zudem zerfetzte ihn die brasilianische Presse nach dem enttäuschenden Auftritt der Seleção bei der WM in Deutschland. Mit dem Ziel, sein Übergewicht loszuwerden, heuerte er für sechs Monate beim FC Sao Paulo an. Nach seiner Rückkehr zu Inter konnte Adriano nicht an alte Leistungen anknüpfen und reiste nach mehrfachem Fehlen unangekündigt in die Heimat Brasilien – und kehrte nie zurück.

Schnaps und Comando Vermelho

Das Leben des Imperators war nun aus den Fugen geraten. Mehrfach galt er als verschwunden,  um dann schließlich nach tagelangen Saufgelagen irgendwo in Vila Cruzeiro aufzutauchen. Flamengo, sein Flamengo, tat seinen Fans und vor allem ihm den Gefallen eines neuen Vertrages. Adriano spielte gut, das Maracanã liebte ihn. Aber immer wieder ließ er sich erwischen mit einer Flasche Cachaça am Hals, jenem Zuckerrohrschnaps, den die schwachen Trinker als Caipirinha zu sich nehmen.

Seine eifersüchtige Freundin demolierte sein Auto vor laufenden Kameras. Von Adriano tauchten im Internet Fotos auf, auf denen er mit Maschinengewehr posiert und seine Finger zu je einem "C" und "V" formt – "Comando Vermelho", der Name der größten Drogengang der Stadt. Das Establishment verachtete ihn und umso mehr liebte man ihn in den Favelas. Er war einer von ihnen und wohnte sogar weiterhin in Vila Cruzeiro.

16 Pflichtspiele in drei Jahren

2010 startete er einen neuen Anlauf in Europa, aber in neun Monaten bei AS Rom absolvierte Adriano läppische acht Einsätze. Zurück in Brasilien versuchte er es beim zweitpopulärsten Klub des Landes. Aber auch bei Corinthians fasste er keinen Fuß mehr. Flamengo nahm ihn erneut unter Vertrag, doch bevor es zu einem Debüt kam, wurde er bereits entlassen.

Der übergewichtige und alkoholkranke Adriano hatte in den letzten drei Jahren ganze 16 Pflichtspiele. Dennoch verpflichtete ihn der solide Erstligist Atlético Paranaense Anfang 2014. Einige Journalisten besaßen gar die Frechheit, die Wörter "Adriano" und "WM-Teilnahme" innerhalb eines Satzes zu schreiben. Nach nur vier Spielen bei Atlético wurde sein Vertrag gekündigt.

Das lateinische Sprichwort "Nomen est Omen" ("der Name ist ein Zeichen") trifft in doppelter Hinsicht nicht auf Adriano zu. Der stolze, mächtige Imperator ist er nicht mehr. Und sein Nachname "Leite" bedeutet Milch. Dennoch ist Adriano noch immer omnipräsent auf Brasiliens Straßen. Kein Name taucht häufiger auf Fußballtrikots auf. Nun heißt es, er sei bei Palmeiras im Gespräch.

Viktor Coco

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In den Wochen vor der WM in Brasilien berichtet Viktor Coco in der Serie "Brasil Inside" vor Ort über Land, Leute und Wissenswertes rund um die heimliche Heimat des Fußballs.

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